Die europäische Automobilindustrie steht an einem Wendepunkt. Der Megatrend Elektromobilität und die ambitionierten Klimaziele der EU fordern grundlegende Veränderungen. Besonders Hersteller von leichten Nutz- und Sonderfahrzeugen müssen ihre Strategien anpassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dabei können gezielte Partnerschaften und Netzwerke von großem Vorteil sein.

 

Neue Maßstäbe durch den europäischen Green Deal

Der 2019 eingeführte europäische Green Deal markiert einen Wendepunkt: Er fordert drastische Emissionsreduktionen und zielt darauf ab, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Besonders im Verkehrssektor werden die Emissionsziele in den nächsten Jahren immer anspruchsvoller und das ist erst der Anfang. Die jüngsten Erkenntnisse und die bevorstehende Überarbeitung der Klimaziele durch das im Sommer 2024 neu gewählte EU-Parlament könnten noch strengere Maßnahmen mit sich bringen.

 

Die wichtigsten Vorgaben bis 2025 und darüber hinaus

Um die Klimaziele der EU zu erreichen, stehen Fahrzeughersteller vor strengen Reduktionsvorgaben für CO2-Emissionen ihrer Flotten. Die EU-Verordnung (EU) 2019/631, zuletzt verschärft durch die Verordnung (EU) 2023/851, setzt klare Emissionsziele:

PKW (Klasse M1):
  • 15 % weniger CO2 bis 2025 (Referenzjahr 2021)

  • 55 % weniger CO2 bis 2030 (Referenzjahr 2021)

  • Ab 2035: null Emissionen

Leichte Nutzfahrzeuge (Klasse N1):
  • 15 % weniger CO2 bis 2025 (Referenzjahr 2021)

  • 50 % weniger CO2 bis 2030 (Referenzjahr 2021)

  • Ab 2035: null Emissionen

Eine Ausnahme gilt bis 2030 für Hersteller mit weniger als 1.000 Neuzulassungen jährlich, die gesonderte Emissionsziele beantragen können. Diese gestaffelten CO2-Ziele stellen die Automobilbranche vor immense Herausforderungen und machen zügige Anpassung der Produktion hin zu emissionsfreien und emissionsarmen Fahrzeugen unausweichlich.

 

Ausnahmen für Sonderfahrzeuge

Hersteller von Sonderfahrzeugen wie Krankenwagen, Wohnmobilen, Bestattungswagen, rollstuhlgerechten Fahrzeugen und anderen Sonderfahrzeugen sind laut Artikel 2 Absatz 3 der EU-Verordnung 2019/631 vorerst ausgenommen. Diese Verordnung gilt nicht für Fahrzeuge mit einer besonderen Zweckbestimmung, wie sie in Anhang II Teil A Nummer 5 der Richtlinie 2007/46/EG definiert ist. Diese Ausnahme soll den besonderen Anforderungen und der speziellen Nutzung dieser Fahrzeugtypen Rechnung tragen und bietet Herstellern in diesem Segment vorerst eine Entlastung.

 

Herausforderungen in der Branche

Ein wichtiger Punkt, der bei der Wettbewerbsfähigkeit der Automobilbranche zum Tragen kommt, ist die Lieferkette der OEMs.

Komplexität der Komponenten:

Um bestehendes Produktionsvolumen auszulasten und die Lieferfähigkeit der Produktion sicherzustellen, müssen die Kapazitäten für Komponenten mehrere Jahre im Voraus geplant und eingekauft werden. Das ist im aktuell dynamischen Umfeld der E-Mobilität mit schnellerem Komponenten-Lebenszyklus (Batteriechemie, Energiemanagement, Leistungselektronik, E-Motorfertigung etc.) verbunden.

Kürzere Produktzyklen:

Da sich die Lebenszyklen von Komponenten rasch verkürzen, kann es passieren, dass neue Produkte bereits veraltet wirken, sobald sie den Markt erreichen. Dies mindert den Nutzen für Endverbraucher und beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit von Aufbauherstellern, die auf aktuelle Technologien setzen müssen, um im Markt bestehen zu können.

Intensiv beschäftigen sich Firmen mit der Reduktion der Kosten für die Batteriechemie und daran angrenzenden Prozessen. Einen guten Überblick dazu bietet der Artikel des Fraunhofer ISI über Alternativen zur Lithium-Ionen-Batterie: Potenziale und Herausforderungen alternativer Batterietechnologien. Die Verlängerung des Produktlebenszyklus sowie der Zyklen-Stabilität der Batterien durch verbesserte Kathoden-/Anodenmaterialien oder Hardwarelösungen (z.B. modulare Microwechselrichter) werden gegenwärtig von Technologieunternehmen wie Bavertis implementiert.

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Auswirkungen auf Hersteller von Sonderfahrzeugen

Die etablierten Hersteller von Fahrzeug-Chassis der Klasse N1, wie Kasten- und Pritschenwagen, richten ihren Entwicklungsfokus primär auf den Massenmarkt. Einige Anbieter, darunter Fiat, haben sich in der Vergangenheit als flexibel gegenüber den Anforderungen von Aufbauherstellern gezeigt und dürften diese Anpassungsfähigkeit vermutlich beibehalten. Doch ob diese Flexibilität für die künftigen, spezifischen Herausforderungen der leichten Nutz- und Sonderfahrzeuge ausreichen wird, bleibt fraglich.

Mit den wachsenden Anforderungen an Emissionsreduktionen und den zunehmenden technologischen Herausforderungen im Sonderfahrzeugbau steigt der Druck auf die Branche. Die Entwicklung modularer und effizienter E-Lösungen, die den Anforderungen der Hersteller von Spezialfahrzeugen gerecht werden, ist bislang noch nicht ausreichend wettbewerbsfähig.

In dieser dynamischen Lage müssen Hersteller von Sonderfahrzeugen zunehmend selbst in den Bereich der E-Mobilität investieren und gezielt Partnernetzwerke aufbauen, um ihre Produkte individueller gestalten und vom Wettbewerb abheben zu können. Dies ist ein wesentlicher Schritt, um langfristig konkurrenzfähig zu bleiben und die besonderen Ansprüche ihrer Kunden weiterhin zu erfüllen.

 

Die öffentliche Hand unter Zugzwang

Auch die öffentliche Hand wird durch gesetzliche Vorgaben wie die "Clean Vehicle Directive" (EU) 2019/1161 in die Verantwortung genommen, um verstärkt auf emissionsfreie Mobilität umzustellen. Mit strengen Beschaffungsvorschriften wird die öffentliche Hand schrittweise dazu angehalten, den Wandel aktiv mitzugestalten. Bereits heute gilt für neu beschaffte PKW und leichte Nutzfahrzeuge in Deutschland eine CO2-Obergrenze von 50 g/km.
  • Ab 2026: null Emissionen bei "Clean Vehicles"

  • Ab 2026: Mindestens 38,5 % der neu beschafften Fahrzeuge müssen "Clean Vehicles" sein.

Der Druck erhöht sich damit nicht nur auf Hersteller, sondern auch auf kommunale und öffentliche Einrichtungen, die ab 2024 nach der ersten Novelle des Saubere-Fahrzeuge-Beschaffungs-Gesetzes noch strengere Quoten einhalten müssen. Davon betroffen sind auch privatwirtschaftliche Akteure, die bestimmte öffentliche Dienstleistungen erbringen, wie Post- und Paketdienste, Stadtreinigung und Personentransporte.

Dieser Wandel wird nicht ohne Wirkung auf den privaten Fahrzeugmarkt bleiben. Wenn Berufspendler und Dienstleister im Alltag zunehmend emissionsfreie Fahrzeuge nutzen, wächst die Erwartung, dass auch Freizeitfahrzeuge klimafreundlicher werden. Für die Industrie bedeutet das: Die Entwicklung und Bereitstellung praktischer, emissionsfreier Lösungen muss auf Hochtouren weitergehen, um diesen steigenden Ansprüchen gerecht zu werden.

 

Fazit: Chancen für Hersteller von Sonderfahrzeugen

Sonderfahrzeughersteller stehen vor einem Wandel: Da sie traditionell auf die Triebköpfe der Chassis-Hersteller angewiesen sind, fehlt es ihnen häufig an eigenem Know-how im Bereich der E-Mobilität. Gleichzeitig ist diese Expertise in der Automobilbranche heiß begehrt. Die steigende technische Komplexität, das Fehlen ausgereifter E-Lösungen und zunehmend strikte Regulierungen stellen gerade kleinere Hersteller vor erhebliche Herausforderungen, da ihnen die Skaleneffekte der großen Anbieter fehlen.

Die Branche muss daher verstärkt in praxisnahe und marktreife Lösungen investieren, um Produkte stärker zu individualisieren und sich in Zukunft im Wettbewerb besser abheben zu können. Hersteller von Sonderfahrzeugen müssen für Ihr Emissionsziel im Jahr 2030 mehr tun, um wettbewerbsfähig zu bleiben und kompetente Partnerstrukturen und Personalkapazitäten aufbauen.

Gleichzeitig eröffnen sich für neue Technologielieferanten Möglichkeiten, sich als innovative Partner in der Lieferkette zu etablieren. Solche Partnerschaften können in Innovationsnetzwerken, wie sie die EurA AG managt, entwickelt werden. Kommen Sie bei Interesse auf unsere Experten für Mobilität zu.

 

Text: Dr. Viktor Schneider

Dr. Viktor Schneider

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